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Wie Mathematiker ticken (2010)

Rezension von: Ruelle, David | | Verlag

Dies ist ein Buch, das mich sehr nachdenklich stimmt: „Wie Mathematiker ticken" von David Ruelle. Ich bin wohl mit einer falschen Erwartungshaltung an dieses Buch herangegangen. Der Titel sowie die Unterzeile „Geniale Köpfe – ihre Gedankenwelten und ihre größten Erkenntnisse" versprechen eigentlich eine spannende und unterhaltsame Reise durch das Wesen der Mathematik und ihrer Koryphäen. Darüber könnte und hat man schon viele Bücher geschrieben. David Ruelle ist ein ausgezeichneter Physiker und Mathematiker, der mit seinen Arbeiten zur Chaos-Theorie dynamischer Systeme und der Charakterisierung des „Seltsamen Attraktors" bekannt und vielfach geehrt wurde. Also im Prinzip gute Voraussetzungen für ein attraktives Buch.

Der englische Originaltitel lautet „The Mathematician's Brain", was sich schon trockener anhört. Aber dies charakterisiert das Buch schon besser. Es ist ein staubtrockenes Buch, mühsam zu lesen, eine seltsame Auswahl von beschriebenen Personen und mathematischen Erkenntnissen sowie gewagter Thesen und leider auch einigen fachlichen Fehlern.

Was versucht Ruelle mit dem Buch zu erreichen? Seine These lautet in etwa, dass die herausragenden Mathematiker exzentrisch waren und sind bzw. diese Exzentrik Voraussetzung für ihre Leistungen wäre. Natürlich fällt es einem nicht schwer, zumindest der erste Teil der These aus dem Bauch heraus zuzustimmen. Dazu kennt man genügend Anekdoten über Mathematiker, wie zum Beispiel der aktuelle Fall von Grigori Jakowlewitsch Perelman, der sowohl die bedeutendste Auszeichnung für Mathematiker (die Fields-Medallie) als auch eine Millionen Dollar als Auszeichnung für die Lösung der Poincaré-Vermutung ablehnte und allein mit seiner Mutter am Rande von St. Petersburg lebt.

Der zweite Teil der These ist schon schwerer zu fassen. Muss man exzentrisch sein oder eine andere Geisteshaltung haben um ein guter Mathematiker zu sein? Was sind die Voraussetzungen für hervorragende Leistungen in der Mathematik? Auch hier ist die Stammtischmeinung „Man muss verrückt sein um sich mit so etwas zu beschäftigen" schnell aufgestellt. Aber kann man dies auch belegen?

Als Wissenschaftler ist es generell nicht ausreichend, nur Anekdoten zu besitzen. Man muss zeigen, dass die These hinreichend statistisch belegt werden kann. Und da kommen schon die Probleme. Denn es existieren auch herausragende Mathematiker und Physiker, die ganz normal sind sowie noch viel mehr verrückte Wissenschaftler, die alles andere als herausragend sind. Und wie verhält es sich in der allgemeinen Bevölkerung, also in der Gruppe der Nichtwissenschaftler. Leider mangelt es hier an einer klaren Argumentationslinie und harten Fakten. Im Kapitel „Turings Apfel" wird dieser Mangel offensichtlich, es kam mir so vor, als würde er endgültig Ursache und Folge nicht mehr trennen, was in der obskuren These gipfelt, dass übermäßige Gehirntätigkeit die Glatzköpfigkeit fördert könnte.

Was wird anstelle einer klaren Argumentationslinie geboten? Ruelle zeigt an einer Auswahl von mathematischen Errungenschaften und der Mathematiker, die hinter diesen Erfolgen stehen, das Mathematik abgehoben und die Mathematiker verschroben sind. Die Auswahl der Themen und Personen stammen aus seiner persönlichen Erfahrung. Dies ist sicherlich ein guter Ansatz, wenn man bei Anekdoten bleiben möchte, birgt aber die Gefahr einer Einseitigkeit (Bias), von unbeachteten Kofaktoren („Muss man einen gewissen Geisteszustand besitzen, um mit dem Autor persönlichen Kontakt gehabt zu haben?") und erschwert so die Verallgemeinerung der Schlussfolgerungen. Außerdem deckt sich die Auswahl nicht unbedingt mit dem Vorwissen der Leserschaft (muss auch nicht) und dem Optimum der Auswahl (was schon wichtiger ist).

Auch schafft es Ruelle nicht, die mathematischen Errungenschaften so darzustellen, dass auch Nichtwissenschaftler verstehen, was damit gemeint ist und was das Besondere dabei war. Und ausgerechnet bei der einfachsten Darstellung, dem Satz des Pythagoras, findet man noch einen Fehler. Dies lässt einem sofort an der Richtigkeit bzw. korrekten Darstellung der anderen Errungenschaften zweifeln.

Ich buche dieses Werk als eine vertane Chance ab, dieser spannenden und amüsanten Fragestellung auf den Grund zu gehen. Da habe ich mir wirklich mehr versprochen.

Titel:Wie Mathematiker ticken
Autor:Ruelle, David
Verlag:Springer, Berlin
ISBN:9783642041105
Datum:2010
Infos:http://d-nb.info/1000033325