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Ausdruck vom: Montag, der 18.03.2024

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Sternzeit Autorenwettbewerb - 11. Platz - Tränen im All

Eine Geschichte von Esther Schmidt

Bridgit Stevens steht mir genau gegenüber. Ich bin ein Glückspilz. Hoch intelligent ist sie und trotzdem ein Rasseweib mit ansehnlicher Oberweite. Wenn ich ihr das sagen würde, hätte ich die Ohrfeige weg, darauf wette ich.
Bob neben mir hat es schlimmer getroffen. Der starrt die nächsten dreiundzwanzig Jahre auf den gestrengen Professor Olson. Ich kann einen Teil von Olson links von Bridgit erkennen und rechts von ihr einen Blick auf den Weltraum werfen, durch den wir fliegen. Ein privilegierter Platz für den Kapitän. Der Rest der Crew zieht sich aufgereiht den Gang hinunter.
Vom Hals abwärts sind die Scheiben unserer Stasiskammern aus Milchglas und Bridgits Körper schimmert nur schemenhaft hindurch. Manchmal versuche ich mir vorzustellen, wie sie dahinter aussieht. Dann frage ich mich, ob ihre Brustspitzen zart und rosa sind, oder braun, wie bei Carmelita. Carmelita! Es tut weh daran zu denken, dass sie tot sein wird, wenn ich zurückkomme. Dann treiben Schlieren in der Flüssigkeit, die meine Kammer füllt. Die Wissenschaftler glauben, dass man in der Stase nicht weinen kann. Haben die eine Ahnung!

Im einundzwanzigsten Jahrhundert hat man sich die Stase noch als traumlosen Schlaf vorgestellt. Der Körper altert kaum, Atmung und Herzschlag sind auf ein Minimum reduziert, wie konnte man da erwarten, dass die höheren Hirnfunktionen aktiv bleiben? Doch Anfang des dreiundzwanzigsten Jahrhunderts wurde klar, dass die Kältestarre mehr ist als ein komatöser Zustand ohne Außenwahrnehmung. Es fängt schon damit an, dass sich die Augen öffnen, wie bei einem Toten. Sechs bis zehn Bildimpulse erreichen das Gehirn pro Tag, keine Bewegungen, nur einzelne Bilder, die das Gehirn quälend langsam verarbeitet. Auch die Gedanken bewegen sich zäh und mühsam. Aber sie sind da und man hat ja bei diesen langen interstellaren Reisen keine Eile - nicht einmal beim Denken.

Im Weltraum verliert man das Zeitgefühl. Es gibt nur die ewige Nacht. Die Sterne sind wunderbar hell. An einem Planeten kommen wir nicht nah genug vorbei, aber der Asteroidengürtel nach Mars hat einige interessante Ausblicke gewährt. Und dann schien es mir einige Zeit, als ob wir durch einen violetten Nebel fliegen. Ich konnte es nicht deuten, aber ich werde die Schiffssensoren daraufhin auswerten, sobald wir gelandet sind. Vielleicht waren es nur Verunreinigungen in meiner Flüssigkeit.

Akustische Signale sind konstanter als die Bilder, die mein Gehirn wahrnimmt. Ich glaube, hin und wieder eine Art Rütteln zu hören und frage mich, woher das kommt. Unser Schiff ist ein erprobtes Modell, der Schiffscomputer wird von der Erde aus permanent überwacht und kann auch von dort beeinflusst werden. Trotzdem fühle ich mich beunruhigt. Man ist sehr alleine hier draußen und dann auch noch in Stase - das nagt schon am Sicherheitsempfinden.

Irgendetwas ist mit Olson. Ich könnte es nicht beschwören, aber ich habe den Eindruck, dass er abmagert. Das dürfte nicht sein. Neben dem Beatmungsschlauch sind wir alle an Ernährungssonden angeschlossen. Ob seine abgerissen sind? Aber wie, wenn er sich nicht bewegen kann?

Jetzt bin ich mir sicher: Olson stirbt. Es ist nicht nur, dass er abmagert, er scheint zu altern. Seine Haare waren blond, als wir aufbrachen, jetzt sind sie von einem schmutzigen Grau. Verdammt, wir brauchen einen Geologen, wenn wir ankommen. Wenn Olson ausfällt, muss Ni-Yuen seine Aufgaben übernehmen, und dass der schon so weit ist, wage ich zu bezweifeln.

Ob Olson merkt, dass etwas nicht stimmt? Ich versuche, in seinen Augen zu lesen, stehe aber zu weit seitlich von ihm, kann sie nicht richtig erkennen. Ich wünschte, ich könnte ihm helfen, könnte einen Notmechanismus aktivieren, aber Bewegungslosigkeit ist nun mal das Hauptmerkmal der Stase. Vielleicht erholt er sich ja wieder.

Olson ist tot. Zuletzt bewegte er sich doch noch. Es muss ein heftiges, krampfartiges Rütteln gewesen sein. Zumindest habe ich etwas Ähnliches gehört. Das nächste, was ich sehe, ist seine verdrehte Haltung und das Blut in seinem Beatmungsschlauch. Ich habe keine Ahnung, was passiert ist. Von einem ähnlichen Fall habe ich jedenfalls noch nie gelesen. Olson war nicht gerade mein Freund, aber er war ein Kollege. Ich wünschte, ich hätte etwas für ihn tun können.

Bridgit ist beunruhigt. Ich kann es an ihren Augen erkennen. Wir stehen uns seit sieben Jahren gegenüber, da lernt man in der unbewegten Miene des anderen zu lesen. Ich habe den Eindruck, sie sieht zu Bob hinüber. Der gute, alte Bob. Ich habe ihn dazu überredet, auf diese Reise mitzukommen. Natürlich ist er in besonderer Weise für die Mission geeignet, aber wenn ich ehrlich bin, wollte ich einfach auf unsere Gespräche bei einem guten Glas Cognac nicht verzichten. Ich kenne ihn seit dem Studium. Wenn ihm etwas passieren sollte...

Jeden Tag versuche ich, in Bridgits Augen zu lesen, wie es um ihn steht. Die Informationsübermittlung ist begrenzt, aber mir scheint doch, dass sich ihre Sorge steigert. Ich frage mich, was es ist, das sie beunruhigt, aber tief im Inneren ahne ich es: Bob altert.

Vorhin hat es neben mir gerüttelt. Ich warte auf das nächste Bild und als ich Bridgit ansehe, hat sich die Unruhe in ihren Augen in Entsetzen verwandelt. Die Flüssigkeit vor ihrem Gesicht trübt sich. Sie weint.

Nein, nicht Bob! Ich habe ihn hierher gebracht! Aus reiner Selbstsucht! Jetzt ist mein bester Freund tot. Der Gedanke tut so weh, dass ich schreien möchte. Doch ich kann es nicht.

Violetter Nebel. Hier im Schiff. Ich weiß nicht, wo er herkommt. Ich weiß nicht, was er ist. Aber es sieht aus, als krieche er zu Bridgit hinüber. Von Bob zu Bridgit. Oh, mein Gott!
Warum merken die im Kontrollzentrum nichts? Die müssen doch merken, dass hier ein Körper nach dem anderen ausfällt! Warum aktivieren sie nicht die Notfallsequenz und wecken uns aus der Stase?

Bridgit ist entsetzlich abgemagert. Ihre Wangen sind eingefallen und ihre Augen trüb. Ich hoffe, sie spürt nicht, was mit ihr passiert, hat keine Schmerzen. Aber ich befürchte das Gegenteil. Sie stirbt über Wochen hinweg. Ich warte. Mehr bleibt mir nicht zu tun. Ich treibe in meiner Flüssigkeit und warte auf das rüttelnde Geräusch.

Was ist das für ein Nebel? Ein fremder Organismus? Eine giftige Energiewolke? Warum nimmt er sich einen nach dem anderen vor? Hat er die Verbindung zum Kontrollzentrum gekappt? Treiben wir völlig abgeschnitten von der Erde im All? Ich muss irgendetwas unternehmen, versuche mich zu bewegen. Kann die Willenskraft eines Menschen die Stase bezwingen? Nein. Nicht einmal der kleine Finger regt sich.

Es ist vorbei. Bridgit ist gegangen. Ihr Todeskampf am Ende war so heftig, dass der Beatmungsschlauch aus dem Schlund gerissen wurde. Ihr Blut färbt die Flüssigkeit, in der sie treibt, schmutzig gelb.

Ich mache mir keine Illusionen mehr. Unsere Mission ist gescheitert. Ich nehme an, dass ich der einzige Überlebende an Bord bin - und auch das nicht mehr lange. Der violette Nebel kriecht zu mir herüber. Ich beobachte ihn, in einzelnen Bildern, wie er auf mich zukommt, dann sehe ich nicht mehr viel. Milchige Schlieren treiben vor meinen Augen.

Die Wissenschaftler werden nie erfahren, dass man in der Stase weinen kann.