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Die Zeit - Sklave der Physik

von Prof. Dr. Harald Lesch und Dr. Harald Zaun

Zwischen Wunschdenken und Metaphysik. Anmerkungen zur im Science-Fiction-Genre idealisierten Zeitreise

Man könnte sie getrost auch als chronometrische Transformation bezeichnen, als Transformation von Zeitpunkt A zu Zeitpunkt B - oder als eine zu anderen "Zeitpunkten". Letzten Endes aber entspricht eine Zeitreise nicht immer einer "klassischen" Zeitreise. Mal gelingt sie - ganz fiktiv - unter Einbeziehung der relativistischen Effekte (Spezielle Relativitätstheorie) im Rahmen der Zeitdilatation an Bord eines (annährend) lichtschnellen oder gar überlichtschnellen Raumschiffes. Mal gewinnt sie auf höchst klassische Weise in Gestalt einer Zeitmaschine à la H. G. Wells literarischen Niederschlag. Wie auch immer die fantastische Zeitreise im Well'schen Sinne daher kommt - ihr Realitätsfaktor ist aus heutiger Perspektive freilich gleich null.

Genau zehn Jahre vor der Veröffentlichung der Speziellen Relativitätstheorie (1905), in der Albert Einstein die Zeit zur vierten Dimension erhob und zeitgleich von den Fesseln des Newton'schen Absolutheitsdiktats befreite, behandelte der englische Schriftsteller Herbert George Wells (1866-1946) in seinem inzwischen mehrfach verfilmten Klassiker "The Time Machine" den Faktor Zeit ebenfalls als selbstständige Dimension. "Es ist klar, dass jeder tatsächlich vorhandene Körper sich in vier Dimensionen ausdehnen muss: in Länge, Breite, Höhe und - in Dauer", pointiert Wells' Zeitreisender (Wells, H. G.: Die Zeitmaschine, DTV, München 2004, 10. Aufl., S. 6.) das entscheidende Charakteristikum der Zeit.

Historische Zeitreisen

Auch wenn Wells sich in seinem Roman in diesem Punkt nach Meinung des US-Astrophysikers Richard Gott III als "außerordentlich hellsichtig" erwies (Gott III, Richard J.: Zeitreisen in Einsteins Universum, Rowohlt-Verlag, Hamburg 2002, S. 16), war er beileibe nicht der erste Mensch, der seinen Romanhelden durch die Zeit schickte. Bereits Mark Twain (1835-1910) thematisierte in seinem 1889 publizierten Buch "A Connecticut on King Artus' Hof" die Zeitreise mit erzählerischen Mitteln, ohne allerdings - wie Wells - wissenschaftliche Erklärungsmuster voranzustellen. Auf welchem Wege sein Protagonist, der nach einem Streit durch den Schlag einer Eisenstange auf den Kopf eher zufällig in das England des 6. Jahrhunderts katapultiert wird und am Hofe des legendären König Artus wieder erwacht, dorthin gelangt, bleibt nebulös.

In seinem Buch, in dem Twain mit der romantischen Verklärung des Mittelalters und des Rittertums, die in seiner Epoche ungeahnte Höhen erreichte, hart zu Gericht ging, beschrieb er ebenso wenig die technischen Aspekte der Zeitreise wie Edward Bellamy (1850-1898) in seinem schon 1888 erschienenen Bestseller "Looking backward 2000-1887". Freilich bewegt sich Bellamys Hauptfigur mit dem Strom der Zeit nach vorn und landet - wie Wells' Held - in der Zukunft: allerdings in der Zukunft des Jahres 2000, wo eine friedliche, klassenlose Gesellschaft, in der alle Menschen gleichberechtigt sind, sozusagen im Schlaraffenland lebt. Heute wissen wir, dass es die Vision eines Optimisten war.

Spiel mit der Zeit en vogue

Fünf Jahre nach Bellamys Vision - exakt 110 Jahre nach Wells' "Time Machine" und genau 100 Jahre nach Veröffentlichung der Speziellen Relativitätstheorie Einsteins - zählt die Zeitreise innerhalb der Science-Fiction-Gattung mit zum derzeit populärsten und faszinierendsten Sub-Genre.

Vormals noch vom Gros der Naturwissenschaftler als unseriöse Abart belächelt, ist das Spiel mit, um und über die Zeit heute in der Physik en vogue wie nie zuvor. Selbst seriöse Forscher wie Jim Al-Khalili, David Deutsch, Charles Bennett, Richard Gott, Stephen Hawking oder Carl Sagan wagten das Undenkbare und jonglierten bis dato zumindest einige Male rein gedanklich auf abstrakt-theoretischer Ebene mit der Zeit, wohl wissend, dass sich ihre Gedankenmodelle zwischen Spielerei und Spekulation bewegen. Wenn etwa der australische bekannte Physiker und Naturphilosoph Paul Davies seinen Bestseller "How to Build a Time Machine" (London 2001) nennt, spiegelt dies den aktuellen Zeitgeist innerhalb der Wissenschaft nur allzu gut wider, der auf Science-Fiction-Autoren eine doch so inspirierende Wirkung hat.

Ende des Großvaterparadoxons

"Heute sind Zeitreisen zu einer Spielwiese für theoretische Physiker geworden", konstatiert der SF-Experte Uwe Neuhold nüchtern. Gefördert wurde dieser Spieltrieb vor allem in der letzten Dekade, als teilweise geistreiche, gleichwohl auch leicht esoterisch gefärbte Theorien und Strömungen die Physik überfluteten. Da war mal von Tachyonen, Multiversen, Parallelwelten, mal von Wurmlöchern, Superstrings, Warp-Antrieb oder eben Zeitreisen die Rede - von Zeitreisen, in denen das Großvaterparadoxon überwunden schien.

Wer nämlich diesem Theorieansatz (Großvaterparadoxon) zufolge mit einer Zeitmaschine 100 Jahre zurück in die Vergangenheit flöge und seinen Großvater umbrächte, somit also die Voraussetzungen für sein späteres Dasein de facto zerstörte, bräuchte dank der Multiversum-Theorie mitsamt dessen Parallelwelten nicht mehr um seine Existenz bangen. Denn bei jeder Interaktion und Intervention des Zeitreisenden entstünde - so die Argumentation der Anhänger dieser Theorie - ein neues Universum: Die Zukunft des alten Kosmos bliebe ergo von jeder Handlung des Zeitreisenden unberührt.

"Contact" und "Timeline"

Seit Kip Thornes legendärem Artikel "Wormholes, Time Machines and the Weak Energy Condition" (Physical Review Letters, Vol. 61, September 1988, 1446-1449) sind auch Raum- und Zeitreisen mit Hilfe von Wurmlöchern in der Science-Fiction salonfähig geworden. Einer der ersten, der seine Heldin zwecks intergalaktischer Völkerverständigung via Wurmlöcher durch Raum und Zeit schickte, war der US-Physiker Carl Sagan. Er konsultierte Thorne und verwertete dessen Vorschläge für seinen lesenswerten und ebenfalls erfolgreich verfilmten Roman "Contact" (München 2000).

Von einer gänzlich anderen Prämisse geht Michael Crichton in seinem mittelprächtigen Verkaufsschlager "Timeline" aus, dessen cineastische Version in den Kinos verdientermaßen schnell das Zeitliche segnete. Ausgehend von der komplexen, teils immer noch unübersichtlichen, nicht ausgereiften Quantentheorie reisen Crichtons Hauptfiguren unter Anwendung besagter Hypothese und entsprechender Technologie ins französische Mittelalter, um sich dort in den Wirren des Hundertjährigen Krieges zu verlieren. Mag sein, dass im subatomaren Kosmos, in dem scheinbar das Chaos regiert und "anarchistische" Quantenteilchen das Sagen haben, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mitunter auf einen Punkt konzentriert sind (oder auch nicht), so wie dies oft behauptet wird. Der Schlüssel zum Zugang aller Zeiten, mit dem Crichton bei seiner Fantasiereise durch die Zeit die Tür zum Frühmittelalter öffnet, ist, wie er selbst gesteht, ausschließlich im Reich der Phantasie und sonst nirgends zu finden.

Zeit - gefangen in der Physik

Sicher ist auf jeden Fall, dass eine Zeitreise mit Hilfe der Quantentheorie oder gar kosmischer Strings, so wie sie Richard Gott III schon 1991 postulierte (Gott III, Richard J. Zeitreisen in Einsteins Universum, Rowohlt Verlag, Hamburg 2002), dem Anspruch von Science in keinster Weise gerecht werden.

Abseits aller Realität stehen vor allem die so genannten Tachyonen (vom griech. "tachys": schnell), jene vorzugsweise in Star Trek erdichteten, rein hypothetischen, überlichtschnellen Teilchen, welche die Spezielle Relativitätstheorie als möglich voraussagt, und von deren Existenz der US-Physiker Gerald Feinberg 1967 erstmals überzeugt war.

So schön die Idee der chronometrischen Transformation zurück in die Vergangenheit oder vorwärts in die Zukunft auch anmutet, so einfallsreich und komplex sie bislang in der Literatur, teils auch in TV-Serien und Kinofilmen umgesetzt wurde - ihr "Realitätsfaktor" ist letztendlich gleich null. Obzwar sie theoretisch möglich ist und nicht die Gesetze der Physik verletzt, ist die Zeitreise bloße "Ficton". Dafür ist die Dimension, die sie zu bezwingen gedenkt, in ein viel zu enges physikalisches Korsett eingezwängt. "Die Zeit ist Sklave der Physik und sie endet mit der Physik", kategorisierte einmal der US-Physiker John Archibald Wheeler das Wesen der Zeit. Ist der Zeitpfeil einmal abgeschossen, der mit dem Urknall in diese Welt trat, sind Ursache und Wirkung nicht mehr umkehrbar. Die Zeit erlaubt keinen Zeit- und Spielraum für eine Zeitreise. Selbst Chefingenieur Montgomery Scott ("Scotty") der U.S.S. Enterprise war sich dieser Tatsache durchaus bewusst. In mehreren Folgen der TV- und Filmserie Star Trek erinnerte er seinen Vorgesetzten immerfort an die Macht der Physik: "You cannot change the laws of physics, Captain."