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Mit dem Kartonsextant bis fast nach Madeira

von Fritz Gfeller, Juli 2004

Die Motivation für diesen Erfahrungsbericht war ein geplanter Segeltörn nach Madeira oder den Azoren, wobei ich meine bis anhin bloß theoretischen Kenntnisse der Astronavigation trotz GPS auffrischen und praktisch verwenden wollte. Aus Neugier beschaffte ich mir den Bausatz des Kartonsextanten von AstroMedia.

Ausgangsort des Törns war die portugiesische Algarveküste nahe bei Sagres, wo im 15. Jh. Heinrich der Seefahrer eine kartografische Schule gründete. Dort wurden die ersten Grundsteine der Astronavigation gelegt, wie die Einführung der Breitengrade in die Seekarten oder die Vervollkommnung des Astrolabiums und des Quadranten (ein Vorläufer des Spiegelsextanten).

Lange Zeit konnte man jedoch damit an Bord nur die geografische Breite anhand der Gestirnshöhen bestimmen, für die Bestimmung des Längengrades fehlte eine exakte Zeitmessung.

1714 hatte dann die britische Admiralität einen "Längenpreis" von 20.000 £ ausgeschrieben, welcher eine brauchbare Methode zur Bestimmung des Längengrades bis auf 0,5° genau hervorbringen sollte. Damit konnte man auch eine kleinere Insel im Ozean finden.

In der Folge lieferte der Astronom Johann Mayer die Methode der Monddistanzen, wobei der Mond und die entsprechenden Gestirnsabstände als Zeitmass dienten; diese Methode war aber in der Praxis viel zu kompliziert. Gleichzeitig entwickelte der Uhrmacher John Harrison den Schiffschronometer, was eine einfachere Bestimmung des Längengrades ermöglichte. Der französische Admiral St. Hilaire führte später die "Höhenmethode" ein, was die Bestimmung der Position aus den Höhendaten des Sextanten mit den damaligen Mitteln (Logarithmentafeln) stark erleichterte (Quelle).

Nun zu dem Erfahrungsbericht: Nach dem Zusammenbau des Kartonsextanten und Ermittlung der Indexfehler gemäss Bauanleitung ging es gleich an die Bestimmung der Position des Beobachtungsortes an Land. Als Hilfsmittel dienten das nautische Jahrbuch 2004, die amerikanischen HO-249 Tafeln oder der Taschenrechner, die Höhenmethode von Hilaire mit Mercator Netzkarte, sowie die modernen Mittel wie der Garmin 45 GPS-Empfänger zur Bestimmung der exakten Position zwecks Vergleich und Angabe der sekundengenauen Zeit (UTC). Alle Sextantmessungen wurden freihändig und mit einer Ablesegenauigkeit von fünf Bogenminuten (') der Nonius-Skala vorgenommen.

Das erste Projekt erwies sich gleich als etwas zu anspruchsvoll: Messung der Gestirnshöhen von Venus, Jupiter und Sirius an Land (ohne Kimm) während der nautischen Dämmerung und Bestimmung der Position aus dem Mittelpunkt des aus den Höhenstandlinien gebildeten Fehlerdreiecks. Zumal die Anzeige der eingebauten Wasserwaage nur noch unter Zuhilfenahme einer Beleuchterin mit roter Taschenlampe sichtbar war und der Horizontstrich auf dem Horizontspiegel in der Dunkelheit sich hartnäckig jeder Beobachtung entzog.

Als Ersatz für den unsichtbaren Horizontstrich brachte ich einen undurchsichtigen Klebstreifen unter dem Horizontstrich an. Dies resultierte in einer kniffligen "Digitalanzeige": Entweder war das gespiegelte Gestirn noch sichtbar, d.h. über dem künstlichen Horizont, oder aber unsichtbar d.h. unter dem Horizont (Bild 1).

Nun, die erste Auswertung ergab schliesslich eine etwas enttäuschende um 21 Seemeilen (sm) versetzte Position mit einem riesigen Fehlerdreieck.

    Wie könnte das Ergebnis verbessert werden?

    1. An der Methode von Hilaire konnte es wohl nicht liegen: Eine Simulation der Positionsbestimmung unter gleichen Verhältnissen (gleiche Gestirne, gleiches Datum und Zeit) aber mit auf Bogensekunden genauen Höhendaten des Planetariumprogramms "Redshift 4" anstelle der gemessenen und mit Index- und Refraktionsfehler korrigierten Sextantwerte ergab sich eine Positionsgenauigkeit von einigen hundert Meter mit winzigem Fehlerdreieck .
    2. Eine genauere Ermittlung des Indexfehlers mit Wasserwaage durch Mittelung mehrerer Messungen ergab einen Indexfehler von ca. + 20'.
    3. Eine Bestimmung des mit der Wasserwaage erreichbaren Höhenfehlers bei Tageslicht (Unterrand Sonne) und Vergleich mit exakten "Redshift 4" Höhendaten ergab einen quadratischen Mittelwert (RMS) von etwa ± 13'. Dies entspricht einer Verschiebung der entsprechenden Höhenstandlinie (und damit des gesuchten Orts) längs der Azimutrichtung des Gestirns um ± 13 sm. Dazu ist zu sagen, dass bei der Beobachtung in der Visiervorrichtung entweder der nahe Horizontstrich oder das ferne Gestirn unscharf erschien und die eingespiegelte agile Wasserwaage zur Kontrolle der horizontalen Lage einen Blickwechsel erforderte, was die Genauigkeit nicht gerade förderte.

    Also ein vorläufiger Rückzug ans Tageslicht: Am 8. Juni 2004 bot sich die einmalige Gelegenheit, den Venustransit durch die Sonne für eine Positionsbestimmung zu nutzen. Das gespiegelte schwarze Pünktchen Venus innerhalb der Sonnenscheibe war mit dem Sextanten inklusive Sonnenfilter mit einiger Anstrengung (und mit Hilfe eines Teleskops, welches die momentane Lage der Venus zeigte) gerade noch sichtbar.

    Ich bildete drei Messgruppen im Abstand von ca. 1,5 Stunden mit jeweils je drei kurz aufeinanderfolgenden Höhenmessungen (Bild 2).

    Das ausgewertete Resultat ergab einen Medianwert des Positionsfehlers von 20,3 sm, d.h. die Hälfte aller der durch die 27 möglichen Schnittpunkte der 9 Standlinien ermittelten Positionsfehler waren kleiner als 20,3 sm. Die Spannweite der Positionsfehler betrug 55 sm (1 sm - 56 sm).

    Ein überraschend genaues Resultat erhielt ich durch Mittelung der je drei Höhenstandlinien mit ungefähr gleichem Azimut und Bildung eines gemittelten Fehlerdreiecks: 3,7 sm (Bild 3). Eine nachfolgende Messung (3x Sonnenunterrand im Abstand von je drei Stunden) ergab eine Positionsgenauigkeit von 11,8 sm mit ungemitteltem Fehlerdreieck. Also Mittelung der Standlinien heisst das Zauberwort bei relativ großen erwarteten Fehlerabweichungen.

    Aber nun zurück in die nautische Dämmerung, aber diesmal ohne Wasserwaage und unscharfem Horizontstrich, gewissermassen als Vorbereitung für Höhenmessungen mit einer wirklichen Kimm.

    In einem Praxisbericht wurde eine Methode beschrieben, bei der die Wasserwaage ersetzt wird durch die Spiegelung der Sonne auf einer ruhenden Wasserfläche in einem Gefäss (Bild 1). Dies hat den Vorteil, dass der Referenzhorizont (im Wasser gespiegeltes Gestirn) und das durch den Sextanten gespiegelte Gestirn im Blickfeld der Visiereinrichtung beide gleich scharf erscheinen und der Blick sich voll auf die "Kimmberührung" konzentrieren kann. Zudem wird dabei der abgelesene Höhenfehler und ein eventueller Indexfehler halbiert.

    Allerdings können mit dieser Methode nur Gestirnshöhen bis etwa 45° erfasst werden. Anstelle eines mit Wasser gefüllten Gefässes habe ich bei Windstille einen grossen Gartenteich als Spiegel benutzt. Der gemittelte Indexfehler ohne Wasserwaage betrug -2'.

    Nun zu den Resultaten: Als Gestirne wurden Venus, Jupiter und Spica aufgrund ihrer günstigen Position und ausreichender scheinbarer Helligkeit ausgewählt. Jedes Gestirn wurde in kurzen Abständen wieder je drei mal vermessen, wobei die im Teich und im Sextanten gespiegelten Bilder des Gestirns längs einer gedachten horizontalen Linie zur Deckung gebracht wurden.

    Der Höhenfehler im Vergleich zu den "Redshift 4" Daten betrug nach den entsprechenden Korrekturen (Refraktion, Indexfehler) mit dieser Methode nur noch etwa ± 3,5' (RMS). Eine Analyse dieser Daten ähnlich zum Venustransit ergab folgende Resultate: Medianwert der Positionsfehler 5,2 sm mit einer Spannweite von nun nur noch 15,2 sm (0,8 sm - 16 sm). Diesmal brachte das Fehlerdreieck aus den je drei gemittelten Standlinien keine wesentliche Verbesserung der Genauigkeit: 5,1 sm.

    Eine nachfolgende Positionsbestimmung mit den gleichen Gestirnen mit je einer Höhenmessung pro Gestirn ergab ein bestes ungemitteltes Fehlerdreieck mit nur 3,7 sm Positionsfehler. Ditto die Sonne im Teich mit je drei Stunden auseinander liegenden Messungen: 6,3 sm.

    Dann folgten endlich die Tests mit wirklicher Kimm (Bild 1) auf der Hochseeyacht "Svenya" im Atlantik. Zum Vergleich dienten zuerst die Messungen von einem festen Standort auf einer Hafenmole an der Algarveküste.

    Die Navigationsgestirne Mond, Jupiter, Arktur, Antares und Spica am südlichen Nachthimmel tauchten während der nautischen Dämmerung (noch sichtbare Kimm) allmählich auf. Spica und Antares mit einer scheinbaren Helligkeit von 1,2 mag bildeten in etwa die Sichtbarkeitsgrenze für den Kartonsextanten ohne Fernrohr für eine mühelose Kimmberührung. Pro Gestirn wurden wieder je drei kurz aufeinanderfolgende Höhenmessungen gemacht. Die Gestirne Mond, Jupiter und Arktur wurden aufgrund ihrer günstigsten Azimutrichtungen für die Analyse analog den obenstehenden Beispielen ausgewählt: Medianwert des Positionsfehlers 7,9 sm mit einer Spannweite von 14,1 sm (2,2 sm - 16,3 sm).

    Das Fehlerdreieck aus den gemittelten (je drei) Standlinien ergab einen Positionsfehler von 4,3 sm. Auf der Yacht wurde dann auf die zeitaufwendige Methode von Hilaire verzichtet und statt dessen das Computer Programm "Astro Classic" von Bobby Schenk verwendet.Diese öffentliche Zurschaustellung alter Seefahrerbräuche mit einem Kartonsextanten hatte natürlich ein lebhaftes Interesse der versammelten Langzeitsegler, welche auf eine günstige Wetterlage für einen Schlag nach Madeira warteten, zur Folge.

    Ich musste jedoch feststellen, dass der bevorzugte "Backup" für einen möglichen Ausfall des GPS-Systems nicht ein Sextant war, sondern ein zweites (oder gar drittes) Hand GPS-System. In der Folge konnte ich dann einen Cassens & Plath Vollsichtsextanten für die gleichen Gestirnsmessungen als Vergleich benutzen. Dazu vorerst ein unfairer Vergleich:

    • Ein Vollsichtsextant erleichtert die Prozedur der "Kimmberührung" natürlich ungemein.
    • Das Fernrohr verschafft eine viel klarere und hellere Sicht von Gestirn und Kimm.
    • Die leichte Einstellung und Ablesung mit Trommel und Gradbogen auf (') genau.
    • Störende Lichtreflexe durch Positionslichter etc. waren dank dem Fernrohr kein Problem.
    • Die 1,8 kg Präzisionsmechanik mit Beleuchtung flösste mehr Respekt ein.
    • Das leichte Gewicht ging natürlich zu Gunsten des Kartonsextanten.

    Leider war die Kimm für eine genaue Positionsbestimmung am betreffenden Standort "unrein" (entfernte Sandbänke verhinderten teilweise eine freie Sicht auf die Kimm). Als Vergleich mit dem Kartonsextanten möge trotzdem ein Versuch der Reproduzierbarkeit der (zweifelhaften) Position mit je drei unabhängigen Fixen pro Gestirnspaar dienen. Als Navigationsgestirne dienten Jupiter, Arktur, Antares und Spica, was sechs mögliche Fehlerdreiecke ergab. Als Maß für die Reproduzierbarkeit oder Streuung diente der kleinste Radius in sm, welcher alle drei Fixe in einem Kreis mit Mittelpunkt des Fehlerdreiecks umschloss: Beim Vollsichtsextanten ergab sich ein mittlerer Fehlerradius von lediglich 2 sm. Davon lag die Hälfte aller Fehlerdreiecke bei nur 1 sm. Als Vergleich lieferte der Kartonsextant für die gleichen Gestirne einen mittleren Fehlerradius von 7 sm. Dies lässt darauf schliessen, dass der Vollsichtsextant doch um einiges präziser ist!

    Aus dem Schlag nach Madeira wurde wegen der herrschenden Wetterlage leider nichts. Ein Ausbruchsversuch wurde nach einem Tag wegen hohem Wellengang und ungünstiger Windrichtung abgebrochen.

    Die Positionsmessungen auf der schaukelnden Yacht "Svenya" waren jedoch nicht wesentlich ungenauer als auf der festen Hafenmole, wohl wegen der relativ grossen Streuung. Jedoch erwiesen sich die Messungen als schwieriger. In der Regel gilt bekanntlich der Grundsatz: Eine Hand für das Schiff, die andere für den Mann.

    Nun, ich brauchte eine Hand für den Kartongriff, die andere für die Kartonalhidade und die restlichen Extremitäten (Füße gegen die Reling gestemmt und Rücken gegen den Besanmast) um das Gleichgewicht zu wahren. Im schlechtesten Fall gelang mir während der Dämmerung mit diesem dynamischen Yoga nur ein einziger befriedigender Fix mit den hellsten Gestirnen (Mond und Wega), allerdings mit einem Positionsfehler von nur 5,2 sm. Bei dieser Gelegenheit fiel mir auf, dass durch die Feuchtigkeit die Kartonalhidade nur noch ruckelig zu bewegen war, obwohl der Sextant vom Spritzwasser weitgehend verschont geblieben war. Aus diesem Grund kam ich zum persönlichen Schluss, dass die Kartonbauweise wohl nur sehr bedingt als Backup-Sextant taugt.

    Fazit: Mit dem Kartonsextanten hätten wir Madeira wohl auch ohne GPS gefunden und inzwischen ließ sich die Alhidade unbeschadet wieder leicht bewegen. Ich halte den Kartonsextanten von AstroMedia für ein ausgezeichnetes und kostengünstiges Lehrmittel zum praktischen Erlernen der Astronavigation. Mit mindestens drei Messungen (Fehlerdreieck) mit Kimm, oder gemittelten Standlinien bei Gebrauch der Wasserwaage lassen sich befriedigende Ergebnisse erzielen, welche annähernd den Resultaten eines professionellen Sextanten entsprechen können.